Westfalenpost, 1957(?)
EINE SOLCHE STUNDE hatte das Atelier, eine Treppe hoch, sicher noch nicht erlebt, und auch für die Mitglieder der Volkshochschule Menden, eine kleine Invasion für Büderich, war es eine ungewöhnliche Begegnung, um nicht zu sagen: eine Art Abenteuer, einen Maler in seiner Klause aufzusuchen, die Atmosphäre zu erleben, in der seine Bilder entstehen.
Für die Gäste aus dem Sauerland war der Hellweg nicht nur eine andere Landschaft, sondern es war auch ein anderer Himmel, größer und höher, mit anderen Wolkenbildern, die just in dieser Jahreszeit die Formen annehmen, in denen die Alten die Birkenbaumschlacht sahen. Ist es Zufall, daß der Sauerländer Vinzenz Frigger gerade in diese Landschaft, verschlagen wurde? Zufall ist es sicher nicht, daß er gerade hier seine Gesichte empfängt, zwischen dem Haarbuckel und der Lippeniederung, zwischen Wald und Feld, in seiner Sensibilität preisgegeben dem großen Blick des Himmels, in dem Häuschen mit den niedrigen Wändchen, eingezwängt zwischen der massiven Kirche und breit hingelagerten Höfen, denen einigen noch ihre glanzvolle Herkunft aufgeprägt ist: Büderich war im Mittelalter das Dorf des Adels.
Zuerst erlebten die Gäste im Wohnzimmer die Musikantenfamilie Frigger mit de Fesch und Purcell, dann ging es eine Treppe höher. Gemütlich bullerte der Ofen. Zwschen Farbtöpfen, Bildern und Büchern fand jeder sein Plätzchen, wenn Frau Frigger auch zuerst das Herz geklopft hatte; denn es war nicht ein Dutzend wie erwartet, sondern es, waren über zwanzig. Und was sich nun in den nächsten zwei Stunden abspielte, das wird in der Erinnerung aller Beteiligten noch lange haften, einiges wahr- scheinlich sogar das ganze Leben lang. Man konnte nämlich das Werden eines Künstlers miterleben, angefangen von Bildern, die vor dreißig Jahren entstanden, bis zu solchen, an denen er noch arbeitet.
So improvisiert die Stunde erschien, war sie doch gründlich vorbereitet. Einige Abende vorher waren die Gäste bereits zu Hause zusammengekommen, um nach einer vorangegangenen Ausstellung in Menden den Boden für die Aufnahmefähigkeit zu bereiten, Vinzenz Frigger hielt keinen Vortrag, sondern führte ein Gespräch mit Rektor Heimann, dem Leiter des Kursus; Bildhauer Hausmann, der auch mitgekommen war, und andere Gäste schalteten sich mit Fragen und Erläuterungen ein; wenn die Stimmung feierlich zu werden drohte - ein nachempfundenes Erlebnis umgibt sich gern mit einer pathetischen Aura -, half eine sarkastische Bemerkung nach.
Es waren, wohl 60 Bilder und mehr, die Vinzenz Frigger an diesem Nachmittag vorwies,und zwar nach Gesichtspunkten geordnet nach der Zeit ihrer Entstehung und nach Art der Darstellung. Grob gesprochen, kann man vier Erlebnisbereiche herausheben: das Dorf, den Wald, den Winter und die Sonne. Zuerst, vor 30 Jahren, war es die Lust am Fabulieren: Eine Schneelandschaft, ein Raum ein verhangener Himmel. Aber wer genauer hinsah, erkannte, daß Vinzenz Frigger schon damals den Spannungen der Diagonalen und der Flächen nachging, anfangs noch unbewußt. Aber er wollte nicht "nur schön" malen, sondern das Un- oder Unterbewußte ans Licht heben. Unter Aussparung des Nebensächlichen lediglich das Bedeutende aussagen. So gelangte er zur Vereinfachung, zur Komposition von Flächen, und erbarmungslos geißelte er sich selbst, indem er das Erzählerische austrieb. Aus dem Winter, vielfach abgewandelt, wurde das Winterliche, keine Winterlandschaft mehr, sondern in Weiß, Blau und glasigem Grün die Darstellung des Kalten "an sich" die Kälte eines eingefrorenen Herzens und seine Einsamkeit.
Oder die Darstellung eines ländlichen Motivs, eines Hahns, wohl ein halbes dutzendmalabgewandelt, zuerst mit Stall und Wohnhäusern im trauten dörflichen Beieinander, dann vor einem roten Hintergrund mit einern stilisierten, Körper - man denkt an den Verrat Petri -, der Hahn als Warner, aus langgezogenem Hals ein ungeheurer Schrei, ein schwarzer Hahn vor einem ungewissen, unheilverküdenden Morgen, der gleichwohl einen Vorstoß ins Helle überwunden werden kann, Mischung von Traum und Wirklichkeit, schließlich der Rufer vor einer riesigen Sonne, aus der das Animalische seine Zeugungskraft bezieht.
"Die moderne Kunst steht in der Nachbarschaft der Philosophie", warf Rektor Heimann nachdenklich ein. Hemmnis oder Beflügelung für die Kunst? Die Frage bedarf keiner Entscheidung, So ist nun einmal der Weg unserer Zeit. Die Güter des Geistes ruhen nicht mehr in einer Weltanschauung, er ist gleichsam zersplittert, hat das "Volk" im Zeitalter der Masse verlassen und lebt inselhaft in den Herzen einzelner, erscheint etwa als ein Nachtstück, in der die Sonne noch da ist, aber zerstört, verwest, als Mondlicht, das auf Gitterformen spielt. Ruhe trotz scheinbarer Bewegung, in einer Eule mit Phosphoraugen, in einer Katze mit Schlangenleib, in spielerischen Formen, die überhaupt nichts mehr aussagen wollen, sondern es dem Betrachter überlassen, seine eigenen Träume und Sehnsüchte hineinzugießen.
"Doll!" verwunderte sich eine von den Besucherinnen. "Wie soll es weitergehen?" fragt eine andere bei Bildern, wie man sie heute in Paris malt.
Ja, wie mag es weitergehen? Vielleicht so wie auch die Schöpfung weitergeht nur, daß, ihr Gang von jetzt an nicht mehr vom Schöpfer allein bestimmt wird, sondern daß der Mensch seine Hand mit im Spiel hat. Man schaudert. Aber es gibt keinen Weg zurück, sondern nur nach vorn. Der Mensch steht noch vor vielen Entdeckungen - nicht nur im Weltall, auch in sich selbst.
Friedlich läuteten die Glocken den Sonntag ein; als man, sich in der Dämmerung auf den Weg nach Werl begab, um den Omnibus ins Sauerland zu erreichen, und die Wolken ließen da und dort einen Stern durchschimmern - Verheißung oder Abschied?
Albert Dalhoff
Mitten in die andächtige Betrachtung der Bilder von Vinzenz Frigger beim Besuch der Mendener Volkshochschule erhob sich die Frage: ,Was kostet eigentlich so ein Bild?" Eine geschmacklose Frage? Mitnichten. Der Maler malt, weil es ihm Freude macht, weil er sich von Erlebnissen befreien will, weil ihm - oder wenigstens manchen von ihnen - das Prophetenamt zugewiesen ist, ein Gesichtspunkt übrigens, der einiges Nachdenken verdient: es gab zu allen Zelten und bei allen Völkern Seher, und die Kirche weist im "Dies irae" auch die altrömische Sibylle keineswegs zurück.
Aber auch der Künstler lebt nicht allein von Farbe, Leinwand und Eindrücken, sondern auch vom täglichen Brot, und es reicht nicht, wenn man bewundernd sagt: "Doll!" Man muß täglich Umgang mit dem Geist pflegen - nicht nur über die Krücken der Kunstdrucke, die "schön" sein mögen, aber über den Umweg der Technik vieles von ihrer Ursprünglichkelt verloren haben, vom Kitsch zu schweigen.
Auf 150 DM schätzte Rektor Heimann den Wert eines Bildes, wenn es gerahmt und im Kunstdruck vervielfältigt wäre. Was würde das Original kosten? 300 DM, antwortete Vinzenz Frigger nach einigem Nachdenken. Der Rahmen - nicht Konfektion, sondern in der Ausführung vom Künstler bestimmt - wird dabei mitgellefert. Das war einer der höchsten Preise, die wir an jenem Nachmittag im Hause Frigger hörten. Es wurden auch noch andere Bilder gezeigt und andere Preise genannt: 200, 150 und 80 DM.
Rektor Heimann hatte die Frage aus einem ganz bestimmten Grunde gestellt. Man hört gewöhnlich nur etwas über Kunstpreise, wenn es sich um ungewöhnliche Stücke handelt, etwa nach dem Diebstahl eines Rembrandt-Gemäldes, oder wenn Picasso ein Stück für eine ungewöhnliche Summe verkauft hat, und gewinnt dadurch falsche Maßstäbe.
Auch der kleine Mann soll wissen, daß er sich, etwa als Weihnachtsgeschenk. ein gültiges Kunstwerk leisten kann. Aus der Resonanz der Zuhörerschaft hörte man die Überlegung: "Vielleicht ..."
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